Musik
Ein kurzer Blick zu Wolfgang, meinem Gitarristen, ein unauffälliges Nicken von ihm. Seine Gitarren sind gestimmt, es geht los. „My heart´s in the Highlands, my heart is
not here (Mein Herz ist im Hochland, mein Herz ist nicht hier)“, fängt Wolfgang an zu singen und zu spielen. Aus der entgegengesetzten Seite des Saales komme ich
hinzu – in Kilt, Battle-Shirt und mit dem typisch schottischen „Basket Hilt Sword“, dem Korbgriffschwert aus dem 17. Jahrhundert, in der Hand. Ich singe die zweite
Strophe: „Farewell to the Highlands, farewell to the North (Leb wohl, mein Hochland, leb wohl, mein Norden)…“ Das Publikum liebt meinen Auftritt im Schotten-Ornat.
Nach dem Song erkläre ich den Zuschauern alles über Kilt, Sporran (Gürteltasche) und Skean Dhub, das kleine Messer im Kniestrumpf, das als tödliche Waffe nicht
unterschätzt werden darf.
Von den „Flowers of the forest (den Blumen des Waldes)“, dem Sterbelied Schottlands, gelangen wir auf unserer musikalisch- literarischen Reise durch die
Highlands nach Culloden-Field, zum Schlachtfeld, auf dem die Schotten von den Engländern niedergemetzelt wurden, hin zu den „Bonnie Banks of Loch Lomond
(den schönen Ufern von Loch Lomond)“. Wir besuchen das Ungeheuer von Loch Ness, besingen das Schicksal des „Great Silkie“, eines Wesens, halb Mensch, halb
Robbe, und rappen zusammen mit MacBeths Hexen um den Kessel herum.
Als Zugabe singen wir gemeinsam die schottische Nationalhymne „Oh Flower of Scotland“ und das ultimative Abschiedslied der Schotten
„Should auld acquaintance be forgot“ („Nehmt Abschied, Brüder“ lautet der deutsche Text), von ihrem Nationalbarden Robert Burns, der
Hunderte von Balladen, Liebesgedichten und Liedern hinterlassen hat. Jeder schottische Musiker hat ihn in seinem Repertoire.
Szenenwechsel – Juli 1986: Mutterseelenallein hocke ich eingehüllt in einen zerfledderten Regenponcho an einer alten Feldsteinmauer in den
schottischen Highlands. Seit einer gefühlten Ewigkeit versuche ich den kleinen Gaskocher anzubekommen, um mir eine Tütensuppe zu kochen.
Der Wind bläst die Flamme meines Kochers immer wieder aus. Meine Finger werden langsam klamm, der Wind heult, mein Magen knurrt und
der Regen klatscht mir ins Gesicht. Schließlich gebe ich es auf, packe meine Siebensachen zusammen, schultere den Rucksack und laufe
weiter auf der einspurigen „Single Track Road“ mit den „Passing Places“ als Stopp- und Ausweichmöglichkeit für den entgegenkommenden
Verkehr. Über zu viel Verkehr muss ich mir keine Sorgen machen. Das letzte Auto hat mich vor einer halben Stunde passiert. Ich lege ein
schnelleres Tempo vor, um warm zu werden. Die Pause im Wind und Regen des schottischen Hochsommers hat mich ausgekühlt.
„Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?“, frage ich mich nicht zum ersten Mal.
Ja, was machte ich als 19-jähriger Schüler trampend und wandernd im schottischen Hochland? Was war passiert? Nun, einen Monat vorher war
ich mit Pauken und Trompeten durch das Abitur gerasselt. Ausschlaggebend war meine schlechte Englischnote gewesen. Ich stampfte durch
die schottische Pampa, um mein Englisch aufzupolieren. Als ich einen Monat später wieder zurück in Deutschland war, konnte ich immer noch
kein korrektes Englisch sprechen. Ich sprach „Scottish“; meine Mitschüler und mein Englischlehrer konnten mich weiterhin nur schwer
verstehen, aber immerhin bestand ich im nächsten Anlauf meine Abiturprüfung in Englisch (Dass ich mittlerweile seit über 20 Jahren Englisch
unterrichte, ist eine andere Geschichte…).
Ich hatte gar keinen Wagen kommen gehört, als plötzlich ein klappriger Ford Transit neben mir auf dem Passing Place zum Halten kam. Die
Seitenscheibe wurde herunter gekurbelt und ein bärtiges Gesicht fragte mich, ob ich einen „lift“ wollte. Ich quetschte meinen Rucksack in den
Laderaum, der mit zahllosen Gitarrenkoffern, Verstärkern, Monitorboxen und allerlei Kabeln vollgestopft war, und setzte mich auf die Vorderbank
neben den Beifahrer. „You´re lookin´really knackered“ (Du siehst ziemlich kaputt aus), meinte der Mann neben mir, der, wie ich später erfuhr,
Roy hieß. „No bloody Scotsman gave you a lift, aye?“ (Dich hat kein verdammter Schotte mitgenommen, was?), wollte nun der Fahrer wissen.
Zur Aufmunterung drückte er mir einen Flachmann in die Hand: Whisky! Besser hätte es gar nicht kommen können. Roy und sein Kumpel Ron
waren als Folk-Duo unterwegs und hatten noch einen Gig am Abend. „Do you fancy Celtic Music? If not get out of this car! (Magst du Folk-
Musik? Falls nicht, raus aus dem Auto!)“ Das wollte ich natürlich nicht und sagte brav ja. Ob ich auch Musik machen würde, wollten beide
wissen. Nein, sagte ich, in der Musik-Theater-AG meiner Schule hat man mir verboten zu singen, und ich dürfe nur Theater spielen. Dann wäre
ich ja genau richtig für Folk-Musik, folgerte Ron. „Just look at us: You don´t need to be young any more, you don´t need to be good lookin´” –
„and you even don´t need to be a good singer (Sieh uns an: Du musst nicht mehr jung sein, du musst nicht gut aussehen – und du musst nicht
mal gut singen können).” Und wenn das alles zusammenkommt, so Roy, hieße so etwas „Roots or Originals.“ - “We ´re doin´ a mixture of
Originals and Roots (Wir machen eine Mischung aus Originalen und Wurzeln).“ Die beiden Musiker wurden mir immer sympathischer.
Schließlich sollte ich “something typical German“ singen. Als Norddeutscher gab ich den „Hamburger Veermaster“ zum Besten. Sie
revanchierten sich mit dem schottischen Walfängerlied „The bonnie Ship, the Diamond“ und meinten, ich könne singen, und zwar gar nicht
schlecht, und ich solle mir nicht den „Schwachsinn“ der anderen anhören.
„Are there any English in the show tonight? (Sind heute Abend Engländer in der Vorstellung?)“ Die Townhall ist bis auf den letzten Platz besetzt.
Die beiden müssen mehr als nur eine lokale Berühmtheit sein. „Come on, don´t be so shy. You are very welcome – despite of all that! (Ach
kommt schon, seid nicht so schüchtern. Ihr seid herzlich willkommen – trotz allem, was ihr gemacht habt!)” Der Saal tobt und schon wird über
den „English tourist” gesungen, der sich verfährt und, statt in Carlisle anzukommen, sich auf den Orkney-Inseln wiederfindet. Darauf folgt „Ye
Jacobites by name“, ein Klagelied über die Jakobiten des schottischen Nationalbarden Robert Burns, von dem ich an diesem Abend das erste
Mal höre. Roy spielt auf seiner Combolin, einer Mischung aus Gitarre und Mandoline, die wehmütige Melodie zu „The Great Silkie“, einem Lied
über den Robbenkönig, der halb Mensch, halb Robbe ist und die tragischen Umstände seines eigenen Todes vorhersagt. Die Musik ist weder alt
noch modern, sie ist zeitlos und hat Rhythmus und Drive! Alt und Jung im Publikum singen gleichermaßen mit, als Roy und Ron „Oh Flower of
Scotland“ anstimmen.
In dieser Nacht hatte ich meine Initialzündung: Ich infizierte mich dauerhaft mit Folk!
Szenenwechsel – ein paar Jahrzehnte später: Wolfgang und ich stehen als Schauspiel- und Musik-Duo „Far Beyond Tweed“ auf der Bühne. Wir
geben „A Scottish Night“. Kreuz und quer rasen wir mit unseren Liedern und Geschichten durch die schottische Sagen- und Legendenwelt. Auf
einmal muss ich an Roy denken: „It´s obvious that our Celtic Music has been robbed by its tunes (Es ist offensichtlich, dass viele unserer
keltischen Lieder gestohlen wurden)… But tonight we bring back some of our old tunes.” – „Aber heute Abend holen wir uns ein paar Lieder
zurück.”
So let us do!
(Zur Erinnerung an Roy Williamson, 1936 – 1990)